«Rise Up Girls» - Förderung der Bildung und der Selbstbestimmung von Mädchen in Marokko

lunedì 6 giugno 2022

von Janine Keller

Selbstbestimmung, Ausbildungsmöglichkeiten und die Verfügbarkeit von Hygieneartikel und fliessendem Wasser ist in unseren Breitengraden eine Selbstverständlichkeit. Es ist auch bekannt, dass dies in anderen Regionen der Welt nicht der Fall ist. So auch in den ländlichen Gegenden Marokkos. Marokko ist ein spezieller Fall: Ein Teil der Gesellschaft macht eine schnelle, moderne Entwicklung durch, wohingegen sich der auf dem Land und in Armut lebende Teil in den letzten Jahrzehnten kaum verändert hat.

Martine Texier (RC Am Greifensee) hat uns letzten Monat bereits einen Einblick in das Projekt «Power of One» gegeben. Als Präsidentin des ICC (Inter Country Comitee) Schweiz/Liechtenstein - Marokko engagiert sie sich auch für das Projekt «Rise Up Girls», welches ihr besonders am Herzen liegt. Wir haben uns mit ihr über «Rise Up Girls» unterhalten.

Wie entstand das Projekt «Rise Up Girls» und was ist das Ziel?

Das Ziel des Projekts ist es, jungen Mädchen in Marokko bessere Ausbildungsmöglichkeiten zu bieten und ihre Selbstbestimmung zu fördern. Nur 10 Prozent der Mädchen in Marokko bilden sich nach der Grundschule weiter.

«Rise Up Girls» wurde initiiert von Nada Sayarh und Sybille Rupprecht, beide sind Mitglieder im Rotary Club Genève International. Nada stammt selbst aus Marokko und arbeitet heute als Professorin in Genf und Dubai. Sie weiss aus erster Hand, was es braucht, um als Frau aus den Verhältnissen in Marokko auszubrechen. Sie war auch diejenige, die mit «Rise Up Girls» auf mich zukam. Zusammen haben wir dann entschieden, dass dieses Projekt vom ICC unterstützt werden soll.

Mädchen in Marokko sollen mit dem Projekt «Rise Up Girls» bessere Bildungschancen ermöglicht werden.

Was sind die Gründe für den häufigen Abbruch nach der Grundschule?

Einerseits wird von jungen marokkanischen Mädchen oft erwartet, dass sie heiraten und eine Familie gründen. Andererseits werden sie von ihren Eltern als gratis Arbeitskräfte eingesetzt, zum Beispiel bei der Feldarbeit. Die Eltern wissen meist nicht, welche anderen Möglichkeiten die Mädchen hätten.

Ein weiteres Hindernis stellen die langen Schulwege dar, die viele Gefahren für Mädchen bergen. In Marokko werden junge Mädchen häufig nicht respektiert und sind auch nicht vor Gewalt geschützt. Deshalb hat die Regierung angefangen, Internate für Mädchen zu bauen. Dank der Internate fällt der lange Schulweg weg und innerhalb der Mauern sind sie in Sicherheit. Das Problem ist nur, dass diese Internate oft völlig ausgelastet sind und die nötige Infrastruktur für alle Schülerinnen, die sie beherbergen, fehlt.

Wie geht ihr vor, um euer Ziel zu erreichen?

Die Arbeit des ICC bei diesem Projekt besteht aus den folgenden drei Eckpfeilern: das Selbstbewusstsein der Mädchen zu stärken, die (sexuelle) Gesundheit und Hygiene zu fördern und bei der Berufswahl zu helfen.

Oftmals kennen die Mädchen ihre Möglichkeiten nicht. Ausserdem fehlt es ihnen an Selbstbewusstsein und Selbstbestimmtheit, um ihre eigenen Entscheidungen treffen und ihren eigenen Weg gehen zu können. Unsere Arbeit besteht in der Aufklärung der Mädchen sowie deren Familien. Wir möchten den Mädchen ausserdem die Möglichkeit bieten, Französisch oder Englisch zu lernen oder ihre Kenntnisse zu verbessern. Früher sprachen die meisten Marokkaner Französisch, das ist heute nicht mehr so. Die Chancen der Frauen in der Berufswelt steigen aber enorm, wenn sie neben dem Arabischen auch das Französische oder das Englische beherrschen.

Des Weiteren unterstützen wir unseren Partnerclub Casa Nord in Casablanca, der sich um die Renovierung von Internaten kümmert. Bis anhin hat der Club bereits sechs Internate renoviert. Die marokkanische Regierung glaubt, dass dieses Projekt starkes Wachstumspotenzial hat und viel bewirken kann.  

Unsere Arbeit zusammengefasst: Die Mädchen sind wie Schmetterlinge. Sie befinden sich in ihrem Kokon und wir helfen ihnen dabei, auszubrechen und ihre Flügel zu entfalten.

Glauben Sie, dass die Eltern die Mädchen dabei unterstützen, wenn sie nur die Möglichkeiten ihrer Töchter kennen, oder wird es welche geben, die sie zum Beispiel dennoch so schnell wie möglich verheiraten möchten?

Das ist eine sehr gute Frage, mit der wir uns ebenfalls bereits beschäftigt haben. Es gibt viele Eltern, die die Mädchen als gratis Fachkräfte sehen. Wir werden vermutlich mit einigem Misstrauen der Eltern konfrontiert sein. Die Kunst wird sein, ihnen beizubringen, dass die Mädchen das Recht haben, selbst zu entscheiden, was sie aus ihrem Leben machen. Zu diesem Zweck müssen wir ihnen zu verstehen geben, dass wir nicht gegen sie arbeiten, sondern für das Wohl ihrer Töchter.

Wie wird das umgesetzt? Gibt es sogenannte Mentoren oder Betreuungspersonen für die Mädchen?

Genau. Die Idee ist, langfristige Betreuerinnen und Betreuer für die Mädchen vor Ort im Einsatz zu haben. Diese Mentoren werden Rotarierinnen und Rotarier sowie Mitglieder von lokalen Rotaract Clubs sein. Wir müssen die Mädchen so informieren, dass es für sie nicht zu kompliziert und schwierig nachzuvollziehen und umzusetzen ist. Wir wollen mögliche Barrieren von vorneweg aus dem Weg schaffen. Das beginnt bei der Aufklärung zur sexuellen Gesundheit und Selbstbestimmung: Verhütungsmöglichkeiten, Hygiene während der Monatsblutung, etc. Mit diesem Wissen werden sie ein freieres und selbstbestimmteres Leben führen können.

Sie sind am 12. Mai für ein paar Tage nach Marokko gereist. Was war das Ziel ihrer Reise?

Ich reiste nach Marokko, um das ICC in Marokko und dessen Präsidenten Miloud Stoti sowie Rotarierinnen und Rotarier verschiedener Orte zu besuchen: Casablanca, Rabat und Fès. Ein geplantes Treffen mit dem Schweizer Botschafter in Rabat, der sich ebenfalls für dieses Projekt interessiert, war leider nicht möglich.

Martine Texier ist Präsidentin des ICC Schweiz/Liechtenstein - Marokko.

Zu Martine Texier

Geboren in Casablanca in eine Gastronomenfamilie aus Frankreich, lebte Martine Texier in Marokko bis zum Alter von 10 Jahren als sie nach Frankreich zog. Später lebte sie während 10 Jahren in Grossbritannien und zog anschliessend in die Schweiz. Sie ist seit der Gründung des Rotary Clubs Am Greifensee vor 26 Jahren Mitglied bei Rotary. Sie war ausserdem sieben Jahre lang Youth Exchange Officer und ist bereits seit vielen Jahren Mitglied der Jugendkommission im Distrikt 2000. Seit ungefähr 18 Jahren ist sie ausserdem Inbound/Outbound Coordinator. Da sie regelmässig  an internationalen Konferenzen Workshops zum Jugendaustausch hält, ist sie weltweit sehr gut mit anderen Clubs und Distrikten vernetzt. Das Projekt in Marokko gibt Martine die Möglichkeit, ihrer alten Heimat etwas zurückzugeben, sowie mit Frauen zu teilen, was sie selbst als Frau über die Jahre hinweg gestärkt hat.