«Es wird zu neuen Organisationsformen kommen und vermehrt zu regionalen Anpassungen» - RI Director Urs Klemm im Interview

sunnudagur, 7. maí 2023

Janine Keller

PDG Urs Klemm (RC Aarau) ist seit fast zwei Jahren Rotary International Director und damit Mitglied des Board of Directors. Das Board of Directors untersteht direkt dem obersten Gremium von Rotary International, dem Council on Legislation (COL) und setzt sich aus insgesamt 17 Rotarierinnen und Rotariern, darunter die Weltpräsidentin oder der Weltpräsident, zusammen. Als RI Director aus der Schweiz ist Urs Klemm zuständig für die Zonen 13B-, 20B, 15 und 16. Er betreut also die Rotarierinnen und Rotarier in der Schweiz, in Deutschland, Österreich, dem Fürstentum Liechtenstein, den Niederlanden und dem flämischen Teil Belgiens.

Lieber Urs, deine Amtszeit als RI Director ist fast vorbei. Wie waren die letzten zwei Jahre als RI Director für dich?

Es war eine sehr spannende Zeit, und natürlich aussergewöhnlich insofern, dass es eine Übergangszeit vom Lockdown zum «normalen» Betrieb war. Vor allem die Förderung der persönlichen Begegnungen, nachdem alles während ungefähr zwei Jahren virtuell funktionierte, wurde zur Herausforderung. Ich glaube, in dieser Hinsicht sind wir heute noch nicht ganz da, wo wir vor Corona waren. Mit Sicherheit wird das Clubleben auch nie wieder genau gleich sein wie vorher. Zoom und Co. bieten völlig neue Möglichkeiten.

Urs und Hélène Klemm laden alle dazu ein, Wasseraufbereitungsanlagen für Pakistan zu spenden.

Spannend waren auch andere Veränderungen in dieser Zeit, wie beispielsweise bei den zwei Pilotprojekten von Rotary International im United Kingdom sowie Australien und den umliegenden Ländern. Dort geht es vor allem darum gegen den Mitgliederschwund zu kämpfen. Bei meinem Amtsantritt wurde ein Projekt «Shaping Rotarys Future» propagiert, welches eine völlige Neuorganisation zum Ziel hatte. Dieses haben wir begraben und durch einen realistischen Ansatz ersetzt. Es gilt, Rotary sukzessive weiterzuentwickeln und den regionalen Bedürfnissen mehr Rechnung zu tragen.

Zu meinen Highlights gehörten das Institut in Prag, welches noch unter erschwerten Bedingungen stattfand und einer der grösseren Rotary-Anlässe war seit dem Ausbruch der Pandemie sowie das erfolgreiche Institut in Basel, das dank unseres grossartigen Teams sehr positive Auswirkungen hatte. Auch die Convention in Houston und die Assembly in Orlando werden mir in sehr guter Erinnerung bleiben.

Des Weiteren gehörten meine Reisen in den Libanon, nach Indien, Pakistan und Uganda definitiv zu den besonderen Erfahrungen der letzten zwei Jahre. Hervorheben möchte ich hier die Reise in den Libanon, wo wir nach der Explosion im Hafen geholfen haben, Spitäler wieder aufzubauen. Es war sehr eindrücklich zu sehen, wie Rotary- und Rotaract-Mitglieder vor Ort unter schwersten Bedingungen Hilfe leisteten.

Das hört sich nach einer sehr spannenden und abwechslungsreichen Zeit an. Wie wird man eigentlich RI Director und was sind die Voraussetzungen?

Wer sich zur Wahl stellt, muss Distrikt Governor gewesen sein und das muss mindestens drei Jahre zurückliegen. Man muss zudem Convention- und Institut-Besuche vorweisen können. Es läuft dann so ab, dass ein Club einen Kandidaten oder eine Kandidatin vorschlägt. Gibt es mehrere, wird ein standardisiertes Assessment durchgeführt. Jeder Kandidat und jede Kandidatin reicht ausserdem zwei A4-Seiten ein, auf denen er oder sie sich vorstellt. Die Vertretungen von jedem Distrikt der Zone wählen dann den Director.

Wie viele Mitbewerbende hattest du vor zwei Jahren?

Ich hatte zwei Mitbewerberinnen, die fairerweise meine Wahl akzeptiert haben. Es ist nämlich auch möglich, Einspruch zu erheben. Das war bei mir aber nicht der Fall. Wir arbeiteten seither auch konstruktiv zusammen.

Was sind denn die Hauptaufgaben eines RI Directors?

Grundsätzlich soll ein Director Rotary fördern und dafür sorgen, dass sich Rotary weiterentwickelt. Dazu gehört zum Beispiel, die nötigen Voraussetzungen für Distrikte und Clubs zu schaffen, damit sie ihre Aufgaben erfüllen können. Auf der strategischen Ebene wirken wir an der Fortschreibung der Legislation mit. Das geschieht laufend auf Verordnungsstufe durch die Fortschreibung des Code of Policies. Für die Gesetzesebene (Bylaws) und Verfassung ist das rotarische Parlament, das Council of Legislation (CoL), zuständig. Dieses tagt alle drei Jahre, das nächste Mal im Jahr 2025. Das Board of Directors hat die Möglichkeit, Anträge beim CoL einzureichen. Ich war in dem Komitee, welches die Anträge für das CoL 2022 vorbereitet sowie Anträge des Board of Trustees und der Distrikte evaluiert hat. Wohl am wichtigsten waren die Beschlüsse bezüglich der Pilot-Projekte. Nebst strategischen Belangen befasst sich das Board mit dem Budget, laufenden Tätigkeiten der Committees und der Administration.

Das Board fungiert zudem als Bindeglied zwischen Rotary International, den Distrikten und den Clubs. Wir kümmern uns um Interessen und Anliegen der Clubs und Distrikte, wobei wir das Gesamtinteresse von Rotary International zu wahren haben. Wir arbeiten dabei eng mit den sogenannten Regional Coordinators, von denen es fünf pro Zone gibt, zusammen. Sie nehmen die fachliche Beratung der Clubs und Distrikte in den Bereichen Mitgliedschaft (PDG Anke Schewe), Public Image (Rot. Bernd Meidel), Foundation (PDG Markus Denzel), Grossspenden (Andreas Prager) und Polio (PDG Urs Herzog) wahr. In den Zonen 15 und 16 habe ich zusammen mit Holger Knaack und meinem designierten Nachfolger Hans-Hermann Kasten ein Regionalteam gegründet, dem die Regional Coordinators angehören. Gemeinsam sind wir stärker und können so den regionalen Bedürfnissen besser Rechnung tragen. Ausserdem war und ist es mir ein Anliegen, dass wir für jede dieser Positionen mit Assistenten in allen Ländern vertreten sind.

Zu den weiteren Aufgaben des Boards gehört es, Medienanfragen zu bearbeiten, sowie Repräsentations- und Schulungsaufgaben wahrzunehmen. Wir gehen beispielsweise an Assemblies, den Weltanlass für künftige Governors, Conventions und Trainingsseminare, vertreten die Weltpräsidentin oder den Weltpräsidenten und besuchen Distriktanlässe.

Dann kommen die Anliegen der Clubs und Distrikte in deinen Zonen über die Regional Coordinators zu dir? Wie können wir uns das in der Praxis vorstellen?

Anliegen kommen von den Distrikten entweder direkt zu mir oder zu den Regional Coordinators. Sie gelangen aber auch über den die Governorräte von Deutschland sowie Schweiz-Liechtenstein zu mir. Ich treffe mich ebenfalls regelmässig mit Vertretungen der Governorstaffel aus den Niederlanden und Belgien. Ich habe allen empfohlen, sich Gedanken über die Zukunft zu machen. Seither stehe ich auch im Dialog mit den seither entstandenen strategischen Ausschüssen.

In Pakistan freuen sich Urs Klemm mit seiner Frau Hélène über den beeindruckenden Einsatz von Rotary für die Polio-Impfkampagne.

Wie sieht die Zukunft von Rotary aus?

Die Mitgliederzahlen verschieben sich eindeutig: In Nordamerika, wo es einmal die meisten Mitglieder gab, sind sie abnehmend, in grossen Teilen Asiens hingegen stark zunehmend. Vor allem in Indien und Südkorea hat Rotary einen hohen Stellenwert. Ich glaube, in zehn Jahren wird die Mehrheit der Rotary-Mitglieder aus dem asiatischen Raum stammen. Aber auch in Afrika steigt die Mitgliederzahl schnell, da sehe ich grosses Potential. Diese Verschiebung der Mitgliederzahlen wird die Regionalisierung zusätzlich vorantreiben.

Die Technologie wird ebenfalls grosse Auswirkungen haben, einerseits in der Administration und Vernetzung und andererseits auf unsere Service-Projekte. Ich habe beispielsweise in Pakistan gesehen, wie bei Polio-Impfkampagnen mit Google Maps und GPS gearbeitet wird. Mit Drohnen könnte man Bestandesaufnahmen machen und Bäume pflanzen, mit 3D-Druckern Prothesen herstellen. Unsere Einsatzmöglichkeiten werden vielfältiger werden. Mit virtuellen Mitteln wird es auch möglich sein, Clubs stärker an Projekten zu beteiligen.

Zudem wird sich mit der mittelfristigen Erreichung der Ausrottung von Polio unsere Bedeutung verändern. Wir sitzen als die führenden Experten der Impfkampagnen in vielen Gremien des Polio-Programms. Es stellt sich die Frage, wie wir unsere Bedeutung nach Erreichung unseres Ziels beibehalten und beispielsweise unseren Sonderstatus bei der UNO wahren können. Ich glaube, eine Lösung ist, dass wir gemeinsam mit anderen Organisationen holistische Projekte realisieren und vermehrt Allianzen eingehen. Dies ist schon heute vielfach der Fall, namentlich bei unseren Grossprojekten im Rahmen der Programs of Scale. Bei unserem Grossprojekt für eine nachhaltige Bevölkerungsentwicklung in Nigeria beispielsweise wirken aus den USA die Centers for Disease Control and Prevention (CDC ) und die Bill und Melinda Gates Foundation mit. Unsere Investition von 2 Millionen USD wird damit verdreifacht und das Beziehungsnetz vervielfacht.

In Zukunft wird auch die weitere Integration von Rotaract wichtig sein. Rotaract ist seit dem Beschluss des CoL von 2019 nicht mehr ein Projekt der Clubs, sondern eine eigenständige Form von Clubs. Es geht nun darum zu definieren, wie diese in den Gremien und Committees auf allen Stufen vertreten sein sollen. Es ist wichtig, dass sich die künftige Generation in unsere Entscheidungsprozesse angemessen einbringen kann.

Wie werden sich diese Entwicklungen auf Distrikt- bzw. Clubebene auswirken?

Clubs werden sicherlich diverser, der Frauenanteil wird weiter steigen. In Ägypten und im Maghreb sind beispielsweise bereits 50 Prozent der Mitglieder Frauen. Bei uns wird es noch etwas länger dauern, vor allem aufgrund der erfreulich hohen Retentionszeiten. Unsere Clubkultur wird vor allem durch neue Clubgründungen diverser und jünger werden.

Auch die Regionalisierung bezüglich der Gestaltung und Organisation wird sich verstärken. Gegenwärtig diskutieren wir beispielsweise, wie wir die Anzahl der Clubs in den Distrikten verkleinern können, um damit eine bessere Vereinbarkeit zwischen Governor-Aufgaben, Familie und Beruf zu ermöglichen. Dies legt nahe, dass mehrere Distrikte gewisse Aufgaben gemeinsam erledigen, beispielsweise die Administration, Jugenddienst aber auch Anlässe. Ich bin auch überzeugt, dass eine Steigerung der Bedeutung und die Kompetenzen der Regionalbüros grosse Vorteile bringt. Unsere Erfahrungen mit dem Europa-Afrika-Büro in Zürich sind jedenfalls ausgezeichnet, das Team versteht dort, wie wir ticken und was wir brauchen.

Ich glaube auch, dass es vermehrt lokale Allianzen unter den Clubs und mit anderen Organisationen geben wird.

In einem Interview mit dem Distrikt 2000 vor knapp zwei Jahren sagtest du, dass es flexiblere Clubmodelle brauche, um jüngere Mitglieder anzuziehen. Hast du da bereits eine Entwicklung feststellen können?

Ja, als Beispiel gibt es im Distrikt 1980 neue Clubs wie den hybriden RC Basel International oder den reine Frauenclub RC Basel am Rhein. Bei meinem Besuch einer Distriktskonferenz in Algier habe ich einen tunesischen Frauenclub kennengelernt, der unglaublich viel leistet. Diese Diversität der Clubs erhöht die Attraktivität von Rotary und macht uns auch wettbewerbsfähiger. Wir sind zudem seit der Pandemie viel digitaler unterwegs. All das ist ein kreativer Prozess, bei dem wir ausprobieren müssen, um herauszufinden, was funktioniert.

Welche weiteren Empfehlungen können Clubs umsetzen, um Mitglieder zu gewinnen?

Clubs sollten sich Gedanken machen, wohin die Reise gehen soll, und wen sie ansprechen möchten. Ich ermutige jeden Club dazu, sich mittelfristige Ziele zu setzen, damit er die Organisationsstruktur entsprechend anpassen kann. Themen-Clubs können sich beispielsweise überlegen, wie man sich vermehrt dem jeweiligen Schwerpunktbereich widmen kann. Ein anderes Beispiel ist die Frage, welche Mitgliederzusammensetzung man anstrebt und dann das Angebot und die Voraussetzungen dafür zu schaffen.

Zudem glaube ich, dass die Qualität der Mitglieder entscheidend ist. In der Schweiz beispielsweise sind Personen geeignet, die sich in ein freundschaftliches Netzwerk einleben können und das Serviceideal verfolgen. Das gemeinsame Serviceideal und die daraus resultierenden erfolgreiche Projekte bringen die Mitglieder zusammen und steigern die positiven Erlebnisse. Für mich ist es jedenfalls eines der befriedigendsten Erlebnisse, wenn wir gemeinsam ein Projekt abschliessen und feststellen dürfen, dass an wir an einem Flecken dieser Welt eine Verbesserung erzielt haben.

Einem Mitglied bei Rotary steht ein grosses Netzwerk an Expertise, Ressourcen, Wirkungsmöglichkeiten und Angeboten wie Fellowships und ICCs zur Verfügung. Als Mitglied profitiert man in vielerlei Hinsicht auch persönlich, darauf sollten Clubs regelmässig hinweisen. Das Leben mit Rotary ist reichhaltiger.

Wie sehen deine rotarischen Zukunftspläne nach deiner Amtszeit als RI Director aus?

Auch wenn meine Zeit als RI Director sehr eindrucksvoll und spannend war, mit all den neuen Aspekten, die sich ergeben haben, bevorzuge ich es, wirkungsorientiert zu arbeiten. Die Erfahrungen, die ich durch dieses Amt gewonnen habe, möchte ich nun einbringen, beispielsweise in Uganda, Pakistan und im Libanon oder in der Arbeitsgruppe zum Thema Harassment, welches mit der zunehmenden Vernetzung und Globalisierung von Rotary an Bedeutung und Komplexität gewinnt.

Ich kann mir auch vorstellen, vermehrt in Organisationen wie EndPlasticSoup oder der Rotary Action Group for Peace mitzuwirken. Ich engagiere mich auch in der Action Group RMCH, die ich zusammen mit Judith Lauber reaktiviert habe. Unterstützung ist willkommen; ich suche nach Mitteln für Dreiradambulanzen in Uganda, Solarpannels für Schulen im Libanon und Wasseraufbereitungsanlagen für die zerstörten Dörfer in Pakistan.

Was die Zukunft betrifft, bin ich ziemlich offen, strebe aber nicht unbedingt die nächste Position in einem Komitee an.  

Dank unseren Projekten in Uganda: Weniger Mütter- und Kindersterblichkeit, mehr nachhaltige Familienplanung

An dieser Stelle möchte ich allen ganz herzlich danken, die sich mit mir für die Erreichung unserer gemeinsamen Ziele eingesetzt haben und, hoffentlich auch in Zukunft einsetzen werden.

Lieber Urs, ganz herzlichen Dank für diesen spannenden Einblick in deine Erfahrungen und Erlebnisse als Rotary International Director und dein unermüdliches rotarisches Engagement!