Rotary: Frau
Biedermann, wie beurteilen Sie als Hausärztin und Medizinwissenschaftlerin die Bedeutung
der Corona-Pandemie mit Blick auf die lange Geschichte lebensbedrohlicher Ereignisse?
Barbara Biedermann: Erdbeben,
Vulkanausbrüche, Dürren oder Wirbelstürme sind Naturkatastrophen, mit denen wir
verhältnismässig gut umzugehen gelernt haben. Seit über einem Jahr verursacht nun
ein unsichtbares Virus eine globale Naturkatastrophe und die ganze Menschheit
ist aufgerufen, dieser zu begegnen. Am Anfang des 20. Jahrhunderts hat ein Grippe-Virus den ersten Weltkrieg
verkürzt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts rüttelt jetzt ein Coronavirus die
wohlstandsverwöhnte Gesellschaft der Schweiz auf.
Und wie ist sie bisher damit umgegangen?
BB: Als typische Schweizerin ist man versucht, primär
zu reklamieren, wenn in Notsituationen etwas nicht schnell genug geht. Ich
möchte aber im Gegenteil alle auffordern, zu applaudieren. Nicht nur dem
Pflegepersonal, den Ärztinnen und den Ärzten in den Praxen und Spitälern. Auch
der Schweizer Bevölkerung.
Wofür?
BB: Vor allem für das disziplinierten Einhalten
der Hygiene-, Quarantäne- und Isolationsvorschriften, für die Kooperation beim
Testen und die Bereitschaft zur Impfung. Auf den drei Erfolgsfaktoren
Hygienemassnahmen, Testen und Impfung beruht das Schweizer Modell zur
Bewältigung der Corona Pandemie. Das funktioniert nur dank Vernunft, Rücksicht,
Ehrlichkeit, Disziplin, persönlichem Verzicht und Geduld der Bevölkerung.
Herr
Gutzwiller, Sie zählen zu den bekanntesten Präventivmedizinern der
Schweiz, haben langjährige Erfahrungen im Zusammenhang
mit Infektionskrankheiten und Gesundheitspolitik. Wie beurteilen
Sie aus heutiger Sicht die Chance, dass wir in der Schweiz gegen den
Sommer hin ein Leben mit relativ wenig Corona-Einschränkungen führen
können?
Felix Gutzwiller: Gemäss dem Plan des Bundesrates soll im Juli
die sogenannte Normalisierungsphase beginnen, dies in der
Annahme und in der Hoffnung, dass bis Ende Juni alle
Impfwilligen geimpft sein sollten. Vorgesehen sind dann ja
auch weitere Öffnungsschritte, etwa mit Blick
auf Veranstaltungen oder auf die Gastronomie.
Könnte es bald wieder so sein wie vor der Pandemie?
FG: Wohl nicht ganz. Sicher werden weiterhin die
Grund-Hygienemassnahmen wie Händewaschen, soziale Distanz und
Masken zumindest in engeren Innenräumen nötig sein.
Inwiefern muss man
damit rechnen, dass das Coronavirus dann im Herbst, also in der
kälteren Jahreszeit, wieder zu grösseren Problemen führen könnte?
FG: Die Lage könnte tatsächlich
wieder etwas schwieriger werden. Alle respiratorischen Viren sind in
der kalten Jahreszeit aktiver und die Ansteckungen häufiger. Allerdings
hoffen wir jetzt in diesem Jahr, dass bis zum Herbst ein hoher Anteil der
Bevölkerung geimpft sein wird und dass zudem die Immunität all
jener, die COVID-19 bereits durchgemacht haben, ebenfalls zur Abnahme
der Infektionen beiträgt.
Wenn Sie aus Ihren
Erfahrungen in der Präventivmedizin zurückblicken: Welches sind heute
aus Ihrer Sicht die geeignetsten Massnahmen, um
künftig einer Verschlimmerung der Lage vorzubeugen?
FG: Im Vordergrund stehen für mich die möglichen Massnahmen auf
persönlicher Ebene, die Barbara Biedermann schon angesprochen hat. Diese liegen
in der Verantwortung von uns allen und betreffen zunächst
die Massnahmen der Grundhygiene. Dazu kommen aber auch das systematische Testen und das
Impfen.
BB: Nach meinen
Erfahrungen war es wirklich entscheidend, die Ausbreitung von SARS-CoV2 in
Echtzeit mit Hilfe präziser Tests zu erfassen und einem leistungsfähigen Netzwerk
die Informationen zu Entnahme, Auswertung und Meldung zu verarbeiten. Ja, und jetzt
tritt die Nutzung der hochwirksamen, nebenwirkungsarmen Impfungen in den
Vordergrund. Dafür steht uns in der Schweiz ein gut organisiertes Netzwerk von
Impfzentren und Arztpraxen zur Verfügung.
Heisst dies, dass jedes Land zunächst bei sich selber für gute
Strukturen sorgen muss? Und gilt dies auch für das Engagement von Rotary?
FG: Ja, in einem ersten Schritt gilt das, aber dann kommt natürlich auch
die globale Dimension ins Spiel. Das heisst, dass auch in den
Entwicklungsländern bald so intensiv wie möglich geimpft werden soll, nur schon, weil damit
möglichst wirksam weitere Mutationen des Virus verhindert werden können.
Ziel wäre es also, auch global auf Verbesserungen hinzuwirken. Kann Rotary
da einen eigenen Beitrag leisten?
Hans-Peter Hulliger: Als Past-Governor sollte ich mich eigentlich
aus der Diskussion von aktuellen Problemen heraushalten.
Trotzdem möchte ich hier aber auch einige Gedanken einbringen, da uns
Corona seit anderthalb Jahren weltweit im Griff hat und wir nun unsere
Kräfte bündeln müssen, um diese Pandemie zu beenden. Die Wissenschaft hat Grossartiges geleistet
und innerhalb kürzester Zeit hochwirksame Impfstoffe entwickelt. Rotary hat
sich mit dem Engagement für die Polioimpfung erfolgreich eingesetzt. Meiner
Ansicht nach ist das Rotary-Netzwerk bestens geeignet, um über Landesgrenzen
hinweg zu einem Impferfolg beizutragen.
Welche Erwartungen
verbinden Sie ganz allgemein mit dem Impfen gegen Corona?
FG: Die Impfstoffe, die
in der Schweiz zur Verfügung stehen, sind sehr
wirksam und sicher. Und zum Glück scheinen die beiden bei uns
verwendeten Impfstoffe von Moderna/Lonza
und Biontech/Pfizer auch gegen die bisher bekannten
Virus-Mutationen weitgehend zu wirken.
Wie sehen Sie die
Nebenwirkungen?
FG: Nebenwirkungen der
Impfung sind nach den bisherigen Erfahrungen recht selten. Bei
3 bis 5 Prozent der geimpften Menschen machen
sich Schmerzen an den Einstichstellen bemerkbar, einige erleben vielleicht
kurze Fieber-Episoden oder Kopfschmerzen, die schnell wieder vergehen.
Schwerwiegende Nebenwirkungen wurden bis heute trotz millionenfachen Impfungen
kaum beschrieben.
Wie hoch sollte Ihrer
Ansicht der Anteil der Bevölkerung sein, der einen Impfschutz hat, um dem Virus
langfristig Paroli zu bieten?
FG: Ziel mit Blick auf die öffentliche Gesundheit
ist es, in der Gesellschaft eine sogenannte Herden-Immunität zu erreichen, also
einen Anteil von Immunen, bei dem das Virus zu wenig neue Wirte
findet, um sich zu verbreiten und sich deshalb die
Pandemie selber limitiert. Für eine solche Herdenimmunität braucht es
ungefähr 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung, die entweder
geimpft sind oder die Krankheit schon durchgemacht haben.
Rotary hat eine lange
Tradition im Fördern der Impfung gegen Polio. Welche Lehren kann man daraus für
Corona ziehen?
FG: Polio, also Kinderlähmung, ist in der Geschichte der Menschheit die
zweite Krankheit, die nun vielleicht ganz ausgerottet werden kann, dies nach
dem früheren Sieg gegen die Pocken. Die Erfolge sind weit gediehen, Polio ist
heute bereits zu 99,9 Prozent ausgerottet und nur noch in speziellen
Situationen, zum Beispiel in Kriegen wie im Jemen, ein Problem. Zudem gibt es
noch Infektionsherde in Pakistan und Afghanistan. Rotary International hat
seit langem, mit Ausdauer und entscheidend zum weltweiten Kampf gegen Polio
beigetragen, es ist eine internationale Aufgabe.
Wie viel Zeit und Aufwand hat Rotary den schon für den Kampf gegen Polio
investiert?
FG: Rotary International war Mitglied der globalen Initiative zur Polio
Ausrottung GPEI, die 1988 gegründet wurde. In diesem Rahmen konnten wir
zusammen mit der WHO, dem amerikanischen Seuchenzentrum CDC, der UNICEF sowie
der Bill & Melinda Gates Stiftung weltweit Entscheidendes bewirken.
Und mit Blick auf
Präventionsmassnahmen: Wie weit sind Polio und Sars-CoV-2 vergleichbar?
FG: Polio ist zwar ansteckender als Sars-CoV-2 , aber
die Massnahmen der Grundhygiene sowie der Impfung sind vergleichbar.
Die Polio-Viren werden nach einer Woche im Nasen-Rachen-Sekret vor allem über
den Stuhl ausgeschieden. Bei der Polio braucht es eine Auffrisch-Impfung
nach einer gewissen Zeit. Dies könnte bei Corona ebenfalls notwendig sein, auch
wenn wir dies heute noch nicht genau wissen.
Es gibt vielerorts
Vorbehalte gegen das Impfen. Wie sind diese Argumente zu beurteilen?
FG: In einer sachlichen Betrachtung muss zuallererst festgestellt werden,
dass die Entwicklung von hochwirksamen Impfstoffen innerhalb von 12 Monaten
eine Meisterleistung der Wissenschaft und der produzierenden Firmen ist. Dieses
Tempo hat die meisten Erwartungen übertroffen. Dennoch ist zu beachten, dass
die Impfungen in der Schweiz auf einer Technologie (mRNA) beruhen, mit der seit
über 10 Jahren gearbeitet wird. Sie ist sicher und verschwörungstheoretische
Überlegungen sind gewiss fehl am Platz.
BB: Ich war in den zu Covid-19 geführten Diskussionen
in
den vergangenen Monaten oft überrascht, wie realitätsfern selbst aufgeklärte, gebildete Menschen am Anfang des
21. Jahrhunderts argumentieren.
HH: Auch darum müssen wir nun von Rotary aus die
Corona-Impfung vorbehaltlos unterstützen. Wir lassen uns impfen und fordern
Freunde und Bekannte auf, dies auch zu tun. Wir können uns damit aber auch
dafür einsetzen, dass die endlosen Diskussionen um Nebenschauplätze, wie
Shutdown und Lockdown ja oder nein, gegenseitige Schuldzuweisungen beendet
werden. Wenn wir der Impfung zum Durchbruch verhelfen, haben wir gute
Aussicht auf ein Ende der Pandemie. Zudem brauchen wir korrekte und ehrliche
Fakten.
Also mehr und bessere Informationen mit Diskussionen darüber?
HH: Ja, die Bevölkerung ist, wie Barbara Biedermann es eingangs
erwähnt hat, intelligent und erkennt daraus, was unternommen werden muss
und schützt sich. Verbote, die auf falschen Daten oder Vermutungen oder sogar
Panikprognosen beruhen, verursachen das Gegenteil.
BB: Ein Wermutstropfen
dazu von meiner Seite: Ich war und bin fast ein wenig schockiert, wie rückständig die Schweiz in der
Digitalisierung des Gesundheitswesens und der Verwaltung ist. Wenn wir uns
dies dank dem Wohlstand und unserer Kleinheit heute vielleicht noch leisten
können, so wird sich in Zukunft dieser Rückstand bitter rächen, weil er uns
immer mehr bremst, uns auch in den Verhandlungspositionen, beispielsweise bei
Impfstoff- oder Medikamenteneinkäufen, schwächt. Auch hier sollte Rotary meiner
Ansicht nach eine Führungsposition einnehmen, apolitisch und sachlich engagiert
eintreten für eine zweckmässige und
wirksame Digitalisierung des Gesundheitswesens auf der Basis schweizerischer
Werte.
Noch konkret zum
Impfen: Wem können Sie eine Impfung mit Überzeugung
empfehlen?
FG: Aus unserer Sicht können alle erwachsenen Personen in der Schweiz die
Impfung nutzen, zukünftig vermutlich auch Kinder. Dazu laufen noch einige
Studien.
Und sehen
Sie für Rotary Möglichkeiten, jetzt unmittelbar zur Steigerung des Impferfolgs
beizutragen?
FG: Rotary kann mit Informationen wie dieser hier mithelfen, dass sich alle
Rotarierinnen und Rotarier impfen lassen und zudem in ihrem Umfeld dazu
beitragen, dass immer mehr Menschen diese Möglichkeit auch nutzen. Neben dem
Ziel der Herden-Immunität steht es gerade Rotary-Mitgliedern besonders
gut an, in der eigenen Impfung auch einen Akt der Solidarität
gegenüber der Familie, den Bezugspersonen und der ganzen Gesellschaft zu
sehen.