Ab diesem Tag waren wir im Kompanie-Büro «plus ein Mann» und der Dienst an der Waffe wurden für Korporal und Rekrut durch Dienst am Bleistift und Lesebuch ersetzt. Es war für beide Männer ein Knochenjob, aber 15 Wochen später las der junge Soldat ordentlich Zeitung und konnte alle Formulare selbständig ausfüllen. Seinen Dienst absolvierte er danach für viele Jahre immer bei mir im Büro-Kdt und jeweils in meiner Kompanie. Jedes Jahr um die Weihnachtszeit erhielt ich von ihm eine handgeschriebene Karte, worüber ich mich stets sehr freute. Und noch heute, wenn ich selbst eine Karte von Hand schreibe, denke ich glücklich, zufrieden und ein bisschen stolz an jene Zeit zurück, damals in der Rekrutenschule.
Es ist unser rotarisches Ziel, Bildung nachhaltig im Gemeinwesen zu verankern, damit alle Menschen selbst Verantwortung für ihre Ausbildung übernehmen können. Wir wollen, dass Menschen frei und gleichberechtigt, ohne Geschlechterbenachteiligung, lernen können.
Bildung ist der Schlüssel zu einem selbstbestimmten Leben, in eine ökonomisch sichere Zukunft. Deshalb richten viele Rotary Clubs entsprechende Projekte darauf aus, Jugendlichen eine umfassende schulische Grundausbildung zu ermöglichen. Dabei geht unser Blick keineswegs nur in ferne Entwicklungsländer, wo wir grundlegend für Bildungsmöglichkeiten sorgen. Auch bei uns in der Schweiz nehmen Probleme wie der funktionale Analphabetismus immer stärker zu.
Auf dem Handy die nächste Bahnverbindung heraussuchen, im Restaurant das Tagesmenü auswählen, der Kollegin im Büro eine Notiz schreiben oder alljährlich die Steuerformulare ausfüllen – für viele Menschen in der Schweiz ist dies keine Selbstverständlichkeit. Im Gegenteil: Bei uns in der Schweiz haben rund 800'000 Erwachsene merklich Mühe mit Lesen und Schreiben. Mehr als 400'000 Erwachsene bekunden Schwierigkeiten mit einfacher Mathematik im Alltag. Des Weiteren kann davon ausgegangen werden, dass rund ein Viertel der Schweizer Bevölkerung nur über geringe oder gar keine digitalen Grundkenntnisse verfügt.
Für Menschen, die Schwierigkeiten mit diesen Grundkompetenzen haben, können alltägliche Situationen zu einer grossen, mitunter zu einer unüberwindbaren Herausforderung werden. Sie sind in ihrem Alltag und im Beruf eingeschränkt. Überforderung, Stresssymptome und ein niedriges Selbstwertgefühl können Folgen von mangelnden Grundkompetenzen (Link zum Interview) sein. Zudem besteht ein erhöhtes Risiko, die Arbeit zu verlieren oder arbeitslos zu bleiben, gerade auch weil der Zugang zu benötigten Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten erschwert ist. Die sozialen und wirtschaftlichen Folgen sind enorm. Neben den finanziellen Kosten (z.B. Ausgaben der Arbeitslosenversicherung, Sozialhilfe und Invalidenversicherung) und des ungenutzten Arbeitskräftepotentials, geht es auch um Fragen der Chancengleichheit sowie gesellschaftlicher, kultureller und politischer Beteiligung.
Rotary hat sich die Verminderung des Analphabetismus zum Ziel gesetzt, weil in einer zunehmend komplexen Welt Analphabeten dazu verurteilt sind, die unterste soziale Stufe in einer Gesellschaft zu belegen. Die vielen Bildungsprojekte, die durch RI, unterstützt von Rotary Clubs weltweit seit Jahrzehnten begleitet werden, sind sehr erfolgreich.
Ich habe mich gefragt, wie es denn heute im Jahr 2022 in der Schweiz bezüglich Lese- und Schreibkompetenzen steht. Ob die Visionen des Heinrich Pestalozzi – «alle Menschen sind des Lesens und Schreibens mächtig!» – erfüllt sind? Nein, leider nein! Es macht betroffen zu erfahren, dass in der Schweiz rund 800‘000 Menschen leben, die Hälfte davon Schweizer Bürger, die nicht richtig lesen und nicht richtig schreiben können, obwohl sie alle mindestens neun Jahre zur Schule gegangen sind. Menschen also, die an Illettrismus leiden und damit sogenannte funktionale Analphabeten sind.
Mitmenschen, vielleicht Nachbarn von uns, Mitarbeiter oder Untergebene, die ohne fremde Hilfe und nur gestützt auf die Schrift nicht in der Lage sind, schriftliche Angaben zu alltäglichen Gegebenheiten ausreichend zu verstehen und/oder eine Mitteilung sinnvoll schriftlich zu vermitteln. Menschen, die sich ein Leben lang trickreich und mit grossem Einfallsreichtum durchmogeln müssen, dauernd in der Angst lebend, dass ihre Schwäche publik wird.
Illetrismus – eine wirklich schwierige persönliche Situation. Könnte das Thema «Kampf dem Illettrismus» für uns RotarierInnen, RotaracterInnen und Inner Wheelerinnen zu einer sozialen Herausforderung oder gar zu einem Clubprojekt werden? Durch unsern Obolus in die Foundation ermöglichen wir RI, Analphabetismusprojekte in aller Welt durchzuführen. Das wollen wir weiterhin unterstützen. Aber vielleicht wagen wir alle den Versuch, unserem Nachbarn, einem Mitarbeiter oder einer Bekannten persönlich und direkt zu helfen, Lesen und Schreiben zu lernen und sich damit als vollwertiger Mensch zu fühlen! Das wäre eine wunderbare, rotarische Herzenstat.
IMAGINE ROTARY - Ich wünsche Euch viel Mut und Erfolg dabei. Es lohnt sich!
Daniel Marbot
Distrikt Governor 2022/2023