Rot. Erwin Carigiet: Covid-19-Pandemie – Psychosoziale Aspekte und harte Fakten

Montag, 1. Juni 2020

Die Ausbreitung des neuen Coronavirus (Sars-CoV-2) und die Geschichte seiner Ausbreitung unterscheiden sich. Die Landkarte ist nie die Landschaft (Hayakawa 1964). Dies führt zu einer Spannung zwischen Wahrnehmung und Wahrheit. Die Frage nach der Wahrheit ist gerade für uns Rotarierinnen und Rotarier im Kontext der 4-Fragen-Probe wichtig.

Die Welt verstehen
So sehr wir alle relevanten Fakten über die Covid-19-Pandemie wissen möchten, kennen wir sie derzeit nicht: Wir können die Menschen noch nicht von einer Erkrankung bewahren oder allen das Leben retten, wenn sie erkranken. Wir leben also mit einer grossen Unsicherheit – und dies wohl noch für eine lange Zeit. Unsicherheit entsteht, wenn wir etwas wissen, aber nicht genug, um mit voller Zuversicht und abgestützt auf (gute) Erfahrungen handeln zu können. Wir sehnen uns zurzeit nach Gewissheiten, die nicht existieren können und klammern uns oft an Halbwissen oder an Erfahrungen, die uns – mit oder ohne eigenes Verdienst – erfolgreich durch frühere Situationen gebracht haben.

Die Menschen haben sich im Verlauf der Evolution an eine Umgebung angepasst, die sie stets nur unvollkommen verstanden haben. Wir haben verschiedene Wege gefunden, um mit der Unsicherheit umzugehen, die unser Leben prägt: Den einen helfen Religionen, den anderen Philosophie und Metaphysik, wiederum andern die Naturwissenschaften, die Welt zu verstehen. Oft in Kombination oder im Widerspruch miteinander.

Der Mensch als köstlicher Lebkuchen
„Aus der Sicht des Keims sind wir ein riesiger köstlicher Lebkuchen, gleichsam ein verführerischer Festschmaus. Den lässt sich das Virus nicht entgehen.“ Dies hat Steven Pinker (2020) launig in einem Interview formuliert. Wen es befallen kann, den krallt sich das Virus. Die Ausbreitung wiederum wird massgeblich vom menschlichen Verhalten bestimmt. Menschen sterben dabei – und deswegen. Viele. Sehr viele. Wir wissen, ab einem gewissen Moment wird es weniger Tote geben. Wann dies der Fall sein wird, wissen wir noch nicht.

Sich selbst zerstörende Prophezeiungen
In Zeiten einer Pandemie spielen sich selbst zerstörende Prophezeiungen eine wichtige Rolle. Diese sind die weniger bekannten Cousinen der sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Dabei handelt es sich um Vorhersagen, deren Eintreffen durch das Bekanntwerden der Vorhersagen bzw. durch die auf Grund des Bekanntwerdens getroffenen Massnahmen verhindert wird. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf der ganzen Welt haben seit Anfang 2020 Politiker und Politikerinnen „gezwungen“, Maßnahmen zu ergreifen, die das Eintreffen ihrer Vorhersagen hoffentlich verhindern. Maarten Boudry hat es wie folgt umschrieben (2020): „Every prophet of doom, unless he happens to be a psychopath, hopes that his predictions will not be borne out.“

Summa summarum gibt es vier Handlungsmaximen, um mit einer Pandemie erfolgreich umzugehen:

  • Kommunikation des Risikos, also Darstellung und Erklärung des Risikos
  • Hygienepraktiken
  • Anpassung des Verhaltens
  • Impfungen und antivirale Therapien

Psychologische Faktoren gestalten alle vier Handlungsmaximen wesentlich mit (Taylor 2019). Dies trifft ebenso auf die zwei Grundvarianten des konkreten Vorgehens zu. Diese bilden eine Art von janusköpfigem Gesetz der Gesundheitspolitik in Krisen. Ich skizziere es summarisch:

  • Handle langsam, weil du zum Beispiel vor deinen Entscheidungen wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse abwartest, und du wirst dafür kritisiert, dass du die Ausbreitung nicht entschlossen und rasch bekämpfst, dass du vermeidbare Todesfälle nicht verhinderst.
  • Handle entschlossen oder aggressiv, vermeide das Schlimmste, stoppe oder verlangsame zum Beispiel den Ausbruch einer Seuche, bevor „es ernst wird“, und du wirst beschuldigt, überreagiert zu haben. Schliesslich sei nichts Schlimmes passiert.
    Manche mögen sich dabei gesagt haben: „Was war also die ‚grosse Sache’?“ „Die Expertokratie hat sich wieder einmal aufgespielt!“ Ein durchaus häufige Reaktion bei sich selbst zerstörenden Prophezeiungen, wie sie in der aktuellen Situation beobachtet werden kann.

Unsicherheit und Zweifel zeichnen die wissenschaftliche Arbeit aus. Die Öffentlichkeit erlebt dies heute in Echtzeit mit. Wir können den Forschenden „zusehen“: Virologen, Epidemiologinnen und anderen Wissenschaftlern. Wir sehen den für die Wissenschaft so gewohnten Widerspruch, die rasche Änderung von Erkenntnissen und Einschätzungen, auch Fehler. Diese Wahrnehmung in Echtzeit, oft zudem in einem Stakkato-Tempo, kann beunruhigen und lässt die gewohnte Sicherheit vermissen, die sonst in der Moderne von der Wissenschaft ausgeht, wenn sie neue Erkenntnisse und Resultate wie einen neuen Impfstoff präsentiert. Dies geschieht sonst jedoch erst nach jahrelanger Forschung.

Die Bedeutung von Kommunikation
Kommunikation ist für die Bewältigung einer Krise zweifellos entscheidend. Kommunikation im Kontext einer Pandemie ist stets eine Art von Übersetzungsarbeit zwischen Expertinnen und Experten und dem Rest der Welt. Wissen zu bündeln und verständlich zu vermitteln, damit Verhaltensregeln plausibel und akzeptiert werden, gehört zu den politischen und wissenschaftlichen Prioritäten. Nicht ausser Acht gelassen werden dürfen dabei Ängste, Hoffnungen und andere Gefühle sowie Bewältigungsstrategien wie Verdrängung, Verharmlosung und andere, die das Handeln der Menschen ebenso beeinflussen wie die Vernunft. Dabei ist es entscheidend, die Komplexität einer Krise anzuerkennen und zu benennen. Gerade durch die Meinungsführenden in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Und last but not least in den Medien. Auch hinzustehen mit Aussagen wie: „Dies weiss ich nicht.“ Oder: „Aufgrund neuer Erkenntnisse habe ich meine Meinung geändert und lockere (oder verschärfe) diese oder jene Massnahme.“ Oder: „Wir haben uns geirrt (und dazu gelernt) und müssen die Entscheide zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus anpassen.“

Wahrhaftig ist, Unwissen, Halbwissen und Wissen zu unterscheiden und Unsicherheit zuzugeben. Als Rotarierinnen und Rotarier können wir hier einen Beitrag leisten. Einblick in die Meinungsbildung und Entscheidungsfindung zu geben, damit Transparenz herzustellen, erhöht das Vertrauen in die Institutionen, gerade in Zeiten hoher Unsicherheit.

Dr. Erwin Carigiet
RC Zürich City

Literaturangaben
Boudry, Maarten (2020), A strange paradox: the better we manage to contain the coronavirus pandemic, the less we will learn from it, The Conversation vom 2.4.2020, https://theconversation- com.cdn.ampproject.org/c/s/theconversation.com/amp/a-strange-paradox-the-better-we-manage-to-contain- the-coronavirus-pandemic-the-less-we-will-learn-from-it-135268 (Zugriff am 14.4.2020).

Hayakawa, Samuel Ichiye (1971), Semantik, Sprache im Denken und Handeln, 4. völlig überarbeitete Auflage, Darmstadt

Pinker, Steven (2020), Unser Gehirn ist im Ausnahmezustand, Interview, NZZ vom 11.4.2020, S. 27.

Taylor, Steven (2019), The Psychology of Pandemics, Preparing for the Next Global Outbreak of Infection Disease, Newcastle upon Tyne.

 

Dr. Erwin Carigiet